Menschen gehen unterschiedlich mit Konzentration, Struktur und Problemlösungen um – auch im Job. Für manche, vor allem für Personen mit ADHS, sind diese Unterschiede nicht nur herausfordernd, sondern auch eine besondere Stärke. Gleichzeitig führen sie oft zu Missverständnissen.
ADHS ist keine rein persönliche Baustelle – sondern eine gemeinsame Chance: Nämlich Arbeitsumfelder so zu gestalten, dass niemand sich erklären, verstecken oder alleine durchbeissen muss.
Was ist ADHS?
ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) ist eine neurologische Entwicklungsstörung, die sowohl Kinder als auch Erwachsene betreffen kann. Obwohl sie häufig mit hyperaktiven Kindern in Verbindung gebracht wird, leben viele Erwachsene mit ADHS – unabhängig davon, ob sie eine Diagnose erhalten haben oder nicht.
ADHS kann die Aufmerksamkeit, die Impulskontrolle, die Selbstregulierung und das Aktivitätsniveau beeinflussen. Es gibt drei häufige Ausprägungen:
- Unaufmerksamer Typ: Schwierigkeiten bei Konzentration, Organisation und Erinnerungsvermögen
- Hyperaktiv-impulsiver Typ: innere Unruhe, ständiges Zappeln oder impulsives Handeln
- Kombinierter Typ: Merkmale beider Ausprägungen
ADHS im Erwachsenenalter ist vielen Menschen kaum bekannt. Symptome werden oft als Unzuverlässigkeit, Vergesslichkeit oder Unhöflichkeit fehlinterpretiert.
«Ich bin 47, geschieden und Vater von zwei Kindern. Seit meiner Kindheit leide ich an dem, was früher als POS – psycho-organisches Syndrom – bezeichnet wurde. Heute würde man es wahrscheinlich ADHS nennen. Am Arbeitsplatz wurde ich oft als seltsam, unhöflich oder als Besserwisser wahrgenommen. Ich glaube, das hat mich bereits zwei Stellen gekostet.»
Der Schweizer Kontext: POS und Diagnosegeschichte
Bis 2012 wurde in der Schweiz häufig die Diagnose POS (Frühkindliches psycho-organisches Syndrom) gestellt – ein breiter Sammelbegriff für verschiedene neurologische Auffälligkeiten. Im Gegensatz zu ADHS umfasste POS auch motorische Verzögerungen, Sprachentwicklungsstörungen und weitere Merkmale.
Obwohl POS heute nicht mehr verwendet wird, wirken seine Folgen fort. Viele Erwachsene, die mit dieser Diagnose aufgewachsen sind, wurden nie neu beurteilt oder angemessen unterstützt. Das führt bis heute zu Unsicherheiten oder Missverständnissen im Arbeitsumfeld.
Wie sich ADHS im Berufsalltag zeigen kann
ADHS ist nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Im Arbeitsalltag kann es sich beispielsweise so äussern:
- Verlegen von Arbeitsmaterialien oder Aufgaben
- Schwierigkeiten beim Aufgabenwechsel oder das starke Vertiefen in eine einzige Tätigkeit (Hyperfokus)
- Unruhe während Besprechungen
- Überforderung in offenen oder lauten Arbeitsumgebungen
- Missverständnisse bei ausschliesslich mündlichen Anweisungen
- Vergessen von Details trotz hohem Engagement
Was wie Unaufmerksamkeit wirkt, kann eine Reaktion auf Reizüberflutung sein. Und was wie Nachlässigkeit erscheint, kann auf eine Überlastung der exekutiven Funktionen hinweisen.
«Ich habe versucht, darüber zu sprechen, wurde aber missverstanden oder abgewiesen. Das tut am meisten weh.»
Warum ADHS oft nicht angesprochen wird
Europäische Studien zeigen, dass etwa fünf Prozent der erwachsenen Bevölkerung von ADHS betroffen sein könnten. In einer Schweizer Untersuchung unter jungen Männern wurde ein ähnlicher Wert festgestellt. Diese Zahl bildet jedoch vermutlich nicht die gesamte Bevölkerung ab – insbesondere Frauen, ältere Personen und Menschen mit unterschiedlichen Lebensrealitäten bleiben häufig unentdeckt.
Wegen bestehender Vorurteile sprechen viele Betroffene nicht über ihre Diagnose. Die Sorge, als unzuverlässig oder überfordert wahrgenommen zu werden, ist weit verbreitet.
Deshalb ist es wichtig, Arbeitsumgebungen grundsätzlich unterstützend zu gestalten – und nicht erst dann, wenn jemand aktiv um Hilfe bittet.
Wie Sie ein unterstützendes Umfeld schaffen
Sie müssen nicht wissen, welche Teammitglieder ADHS haben, um sinnvolle Veränderungen umzusetzen. Viele der folgenden Massnahmen sind für alle hilfreich und fördern ein respektvolles, effektives Miteinander:
- Klare Kommunikation: Ergänzen Sie mündliche Anweisungen durch schriftliche Notizen.
- Strukturierte Aufgaben: Zerlegen Sie komplexe Projekte in nachvollziehbare Schritte.
- Konkrete Fristen: Vermeiden Sie ungenaue Zeitangaben – klare Termine helfen.
- Reduktion von Ablenkungen: Bieten Sie ruhige Arbeitsplätze oder Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung an.
- Regelmässiges Feedback: Kurze, kontinuierliche Rückmeldungen sind oft effektiver als seltene Gesamtbewertungen.
- Offene Kommunikation: Fragen Sie: „Was würde Ihnen helfen, konzentriert zu bleiben?“ statt: „Warum hat das nicht geklappt?“
- Flexible Arbeitsgestaltung: Wo möglich, ermöglichen Sie flexible Arbeitszeiten oder individuelle Arbeitsweisen.
Diese Massnahmen sind keine Sonderlösungen. Sie sind gute Praxis für vielfältige Teams.
Was Arbeitgeber in der Schweiz wissen sollten
In der Schweiz besteht keine gesetzliche Pflicht, spezifische Anpassungen für ADHS vorzunehmen. Es gelten jedoch Gleichstellungsgrundsätze und der Schutz vor Diskriminierung. Darüber hinaus spiegeln inklusive Praktiken zentrale Werte wie Fairness, Vertrauen und Verantwortung wider.
Viele dieser Anpassungen sind mit wenig Aufwand verbunden – können aber die Zusammenarbeit verbessern, die Zufriedenheit erhöhen und gesundheitlichen Belastungen vorbeugen.
Fazit
ADHS ist keine Schwäche. Es ist eine andere Art, die Welt wahrzunehmen und zu verarbeiten. Viele Mitarbeitende gehen tagtäglich damit um – oft, ohne es anzusprechen.
Wenn wir Raum für unterschiedliche Arten der Konzentration schaffen, gestalten wir Arbeitsplätze, in denen alle ihr Potenzial entfalten können.
Quellen:
- Schweizerische Gesellschaft für ADHS (SFG-ADHS) – sfg-adhs.ch
- ADHD Europe – adhdeurope.eu
- Attention on ADHD – Schweiz im Überblick (PDF) – PDF lesen
«Ich weiss, was ich kann. Was ich mir wünsche, ist Akzeptanz, Unterstützung, Respekt und Wertschätzung von Vorgesetzten und Kolleginnen und Kollegen.
Nicht alle Menschen sind gleich. Das sollte in Ordnung sein.»